„Die Aufgabe des Schaffenden besteht darin, Gesetze aufzustellen, und nicht, Gesetzen zu folgen“, dekretierte Ferruccio Busoni 1916 in seiner „Ästhetik der Tonkunst“. Tatsächlich: Die Musik dieses schweizerisch-italienischen Trios scheint dem kategorischen Imperativ des streitbaren Komponisten, Pianisten und Rebellen zu folgen. Nach ihren eigenen Gesetzen zelebrieren Gitarrist Franz Hellmüller, Bassist Stefano Risso und Schlagzeuger Marco Zanoli ihre weitgehend freie Musik, ohne auf den Zug vorgefertigter Traditionsmuster aufzuspringen. Deren Spurenelemente aber irrlichtern durch diese eng verzahnten Trialoge, doch destillieren die drei im milden Fluss der Ereignisse etwas ganz und gar Eigenes daraus. Gleichberechtigt ausgewogen, nuanciert und in höchster Detailschärfe entwickeln sie ihren faszinierenden Kosmos.
Die Gitarre ist im modernen Jazz mehr an das Auftreten Einzelner gebunden als jedes andere zentrale Instrument. Die Finger zweier Hände reichen, um die wirklich Großen aufzuzählen. Stets präsent zwar, wurde sie auf dem langen Weg vom Blues zu Bebop und Free irgendwie marginalisiert. Das änderte sich nachdrücklich und flächendeckend, als Miles Davis Ende der Sechziger seine Instrumente an Verstärker anschloss und zur gleichen Zeit James Marshall Hendrix die Berührungsängste zum anderen Lager ein für allemal überwand. Seither ist die Gitarre reformiert und ein unüberschaubares Heer übertraf sich im Höher-Schneller-Weiter. Jazz-Rock hieß die inzwischen müde Parole. Doch was aktuelle Abweichler und Innovatoren angeht, gilt wie selten im aktuellen Jazz: Nie war die Gitarre so wertvoll wie heute. Allenthalben dieses Spielen mit den Stilen, doch nur in den besten Fällen ihr Aufbrechen hin zu etwas wirklich Neuem, das in der momentanen Unübersichtlichkeit des Genres Maßstäbe und neue Haltepunkte zu setzen vermag.
Dieses telepathisch agierende Trio ist ein solcher Fall. Spontane Changes bestimmen oftmals die Chorusse, in weiten Bögen wird mit dem Ausgangsmaterial gespielt, jeder erspürt in diesem konzentrierten Instant Composing traumwandlerisch, was der Moment braucht, um die Energie wachzuhalten. Das kommt aus ohne brachiale Gesten und das Muskelspiel der Egomanen, das muss seine Patterns nicht überstrapazieren.
Also reißt diese Musik nicht ein, sondern lässt im Gegenteil etwas entstehen, das von immenser Tragfähigkeit ist. Dazu nimmt man sich Zeit, um eben darum dem Hörer welche zu schenken. Alles fließt, als müsste es genau so sein, und ergibt eine wundervolle Fortführung der hoch gelobten Doppel-CD „waitung for you“ aus dem Jahre 2011. Man ist nah beieinander in einer ganz und gar gemeinsamen Sprache. Keiner muss hier ausbrechen oder autoritär werden. Stattdessen wird gemeinsam vorangeschritten in subtilen Interaktionen, deren immanente Logik sich unaufdringlich überträgt. Man muss sich den Hellmüller-Risso-Zanoli-Hörer als glücklichen Menschen vorstellen …
Er ist eingeladen mit dieser faszinierenden Band ins Offene aufzubrechen. Sanfte Impulse, sich nie verselbstständigende und gerade deswegen so verblüffende instrumentale Fertigkeiten aller, die nicht überrumpeln wollen, sondern aus der nur scheinbaren Ruhe ihre magische Kraft entwickeln. Soll man „9volte9“ jetzt schon ein künftiges Referenzstück für das Format Gitarre-Bass-Schlagzeug nennen oder vielmehr den Gesamtorganismus feiern, aus dessen Zentrum es sich herausschält? Diese Reise nach „Norsten“ ist ein großes Geben und Nehmen, ein kurzweiliger Trip durchs Wunderland zwischen Tempoforcierung und Innehalt: berauschend, unvorhersehbar und auf der Höhe der Zeit.
Ulrich Steinmetzger